Ein Garten, darin eine Tischtennisplatte und eine vierköpfige Familie, die lachend Rundlauf spielt. Nebendran döst ein großer, gemütlicher Hund. Ein Familienidyll? Nur zeitweise. Diese Familie liebt sich, aber sie leidet: an der Krankheit des Vaters, der an paranoider Schizophrenie erkrankt ist. Etwa einmal im Jahr bekommt er ?Hirngespinster?, wie der Kinofilm von Chrstian Bach heißt, der mit dieser Szene beginnt. Jedes Familienmitglied hat seine eigene Art, damit umzugehen.
Da Vater Hans (Tobias Moretti), ein ehemals gefeierter Architekt, schon länger keinen großen Auftrag mehr an Land ziehen konnte, hat Mutter Elli (Stephanie Japp) die Ernährerrolle übernommen, während der 22-jährige Simon den Haushalt schmeißt und sich liebevoll um seine kleine Schwester Maja (Ella Frey) kümmert. Eigentlich hat Simon sich mit diesem Leben gut arrangiert ? bis zu dem Tag, an dem mit der angehenden Medizinstudentin Verena (Hanna Plaß) erstmals ein Mädchen in sein Leben tritt, das ihm wirklich etwas bedeutet ? und das das mit Mühe austarierte Familiensystem durcheinanderwirbelt.
Jonas Nay: ?Ich spiele einen West-Spion?
Ein zunächst aufwühlender, dann bedrückender und schließlich befreiender Film ist Christian Bach gelungen und ein starkes Ensemble-Stück, in dem ein junger Mann, der sehr früh Verantwortung für andere übernimmt, lernen muss, dies endlich für sich selbst zu tun. Eine knifflige Rolle, die über weite Teile darin besteht, durch wenige Gesten, durch Mimik und Körperhaltung auszudrücken, was in diesem Simon vorgeht, um dann auszubrechen. Sie wird gespielt von einem der größten Talente, die der deutsche Film aktuell vorzuweisen hat: Jonas Nay.
Als FOCUS Online mit ihm spricht, dreht er gerade für RTL einen Spionage-Mehrteiler in Berlin, eine Mini-Serie, die zur Zeit des Kalten Kriegs spielt. ?Ich spiele einen West-Spion?, erzählt Nay. ?Die Mini-Serie erzählt seine Geschichte von der Einschleusung in die Bundeswehr- und NATO-Kreise im Westen bis zum großen Mega-Gau.?
Der Junge geht auf Charakterreise
Davor war der junge Schauspieler aus Lübeck dreieinhalb Monate in Prag: eine Hauptrolle in einem ZDF-Dreiteiler, der im Januar ins Fernsehen kommt. Nay spielt einen jungen Flüchtling, der Karriere in der Kommunistischen Partei macht. ?Ein sehr idealistischer, kommunistisch geprägter Kopf, der kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in Deutschland anfängt, die DDR mit aufzubauen?, erzählt er. ?Er wird dann knallhart mit der Realität konfrontiert. Er kommt aus dem Nichts, und versucht, sich seinen Lebenstraum zu verwirklichen – mit Gerechtigkeit für alle.? Nay erinnert sich an die Dreharbeiten als spannende Charakter-Reise: vom Flüchtlingsjungen bis hin zum Familienvater und SED-Hardliner. ?Ein sehr krasser Entwicklungsbogen ? was ja für einen Schauspieler immer schön ist.?
Direkt auf den Dreh von ?Hirngespinster? folgte außerdem ein weiterer Kinofilm: Die UFA-Produktion ?Wir sind jung, wir sind stark.? Sie erzählt von den ausländerfeindlichen Anschlägen auf das Sonnenblumen-Haus in Rostock-Lichtenhagen im August 1992. Ein Film, der beim Filmfestival in Rom (16. bis 25. Oktober) feiern und die Internationalen Hofer Filmtage eröffnen wird (21. Oktober).
?Ich bin 90er-Jahrgang, ich hab noch nicht mal das geteilte Deutschland mitbekommen!?
Ein breites Spektrum also vom gemobbten und erpressten Schüler in Nays preisgekröntem Hauptrollen-Debüt in ?Homeboy? ? der Film von Regisseur Kilian Riedhof wurde unter anderem 2012 mit dem Adolf-Grimme-Preis ausgezeichnet ? über den Sohn eines paranoid-schizophrenen Vaters, der sich seinen Weg im Leben eröffnen muss, im aktuellen Kinofilm ?Hirngespinster? hin zu den historischen Figuren. ?Das war eine bewusste Entscheidung. Ich finde es spannend, unterschiedliche Rollen zu spielen?, sagt Nay im Gespräch mit FOCUS Online. Die historischen Rollen finde er schon allein deshalb reizvoll, weil er das, was er spielt, nicht selbst erleben konnte. ?Ich bin 90er-Jahrgang, ich hab noch nicht mal das geteilte Deutschland mitbekommen! 1983 ist für mich schon historisch?, sagt er schmunzelnd. ?Für mich sind diese Rollen eine gelebte Geschichtsstunde: Ein Mehrteiler über die Teilung in Ost und West, dann einer über den Kalten Krieg.?
Was die historischen Rollen und die in der Jetztzeit spielenden, von Nay interpretierten Charaktere eint, ist ihre Wandelbarkeit, die Entwicklung, die sie durchleben. Sei es, wie im Fall der beiden Fernsehproduktionen, über Jahrzehnte, oder wie in ?Hirngespinster? im Rahmen von wenigen Wochen. Beim Bayerischen Filmpreis 2013 wurde der Film für die herausragende schauspielerische Leistung gleich zweimal ausgezeichnet: Tobias Moretti erhielt den Preis als bester Darsteller, Jonas Nay wurde als bester Nachwuchsdarsteller geehrt. Von der Deutschen Film- und Medienbewertung erhielt ?Hirngespinter? das Prädikat ?besonders wertvoll?.
Eine Schauspielschule hat er nie besucht
Dass er nach erfolgreichen Filmen gerade wieder Mehrteiler dreht, ist eine gewisse Rückkehr zu den Wurzeln. Jonas Nay sammelte bereits sehr früh Fernseherfahrung: Als Kind spielte er zwei Jahre lang in der NDR-Kinder- und Jugendserie ?4 gegen Z? eine Hauptrolle. Darauf folgten weitere kleinere Rollen in Produktionen der Öffentlich-Rechtlichen. Nach dem Abitur startete der heute 24-Jährige dann richtig durch: Auf den bereits genannten Erfolg mit ?Homevideo? folgten ?Tatort?-Rollen (2011: ?Die Ballade von Valerie und Cenk?, 2012: ?Todesschütze?) und eine vollkommen anders als in ?Hirngespinster? gelagerte Vater-Sohn-Geschichte in ?König von Deutschland? (2012).
Eine Schauspielschule hat er nie besucht. Auf die Frage, woher er denn dann wisse, wie gutes Schauspiel funktioniert, übt sich Nay in Bescheidenheit: ?Ich hab? halt als Kind zwei Jahre lang eineSerie gedreht,? 4gegenZ?. Das war schon eine ganz schön gute Schule. Ich habe sozusagen direkt vor der Kamera gelernt.? Sein Spiel bezeichnet er als ?intuitiv?: ?Ich verwende nicht irgendwelche Techniken.? Was ihm dabei helfe, sei die Routine in Abläufen am Filmset: ?Das sind ja auch viele technische Abläufe, die sich ähneln.? Er könne sich somit voll auf sein Spiel konzentrieren.
Liedtexte lieber nicht auf Deutsch: ?sonst fange ich sehr schnell an, mich zu schämen?
Um sich auf die Rolle des Simon in ?Hirngespinster? vorzubereiten, musste er sich, wie Simon auch, zunächst mit dem Krankheitsbild von dessen Vater Hans (Tobias Moretti) vertraut machen: der paranoiden Schizophrenie. Dass der Film so gut funktioniert liegt Nay zufolge entscheidend am Spiel seines noch erfahreneren Kollegen Tobias Moretti, der den Hans als impulsiven Kraftmenschen spielt. Gar nicht so leicht, sich neben solch schauspielerischer Gewalt zu bewähren. ?Die Szenen mit Tobias Moretti waren fantastisch?, schwärmt Nay, ?weil er unheimlich intensiv spielt. Das zieht einen total mit. Wir waren richtig in dem Vater-Sohn-Verhältnis drin. Dadurch, wie er spielt, fordert er Reaktionen ein.? Der Dreh mit ihm sei eine regelrechte Lehrstunde gewesen.
Anders als bei seinem ersten Standbein, der Schauspielerei, besucht das Doppel-Talent Nay als Musiker eine Hochschule. Auf eine Ausbildung in Filmmusik und Komposition sattelt er aktuell noch ein Studium an der Musikhochschule in Lübeck drauf. Hauptfach: Jazz-Piano. Mit seiner Band ?Northern Lights? hat er gerade ein neues Album herausgebracht. Deren Lieder waren bisher in englischer Sprache. Der Grund dafür zeigt, wie uneitel das Doppel-Talent Nay ist: ?Wenn man auf Deutsch schreibt, muss man in Deutsch auch richtig gut sein?, sagt der Sänger und Texter selbstkritisch, ?sonst fange ich sehr schnell an, mich zu schämen?. Er sei darin ?nicht so richtig gut? gewesen und habe sich auch singend im Englischen mehr zu Hause gefühlt. Sein Schauspiel-Kollege David Schütter hat den ?Northern Lights? jetzt eine neue Ausdrucksform verpasst: Songs auf Deutsch. Für Jonas Nay ist es mindestens die fünfte Ausdrucksform ? nach Schauspiel, Klavier, Gitarre, Schlagzeug und deutschem Gesang. Nay: ?Ich tanze gerne auf mehreren Hochzeiten.?
Video: Der Trailer zu ?Hirngespinster“
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