Künstliche Intelligenz: Das geht zu weit!

Gepostet am Jun 12, 2017

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  1. Seite 1 ? Das geht zu weit!
  2. Seite 2 ? Die KI wird zur bedeutendsten politischen Kraft der Geschichte

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Beginnend mit der heutigen Zeit, produziert die Welt unaufhörlich eine immer exaktere Kopie von sich selbst. Ihre Beschaffenheit wird in Form digitaler Datenströme mit wachsendem Detailreichtum dupliziert, die in Echtzeit immer mehr und immer vielfältigere Situationen abbilden. Die wachsende Zahl von Sensoren an den Oberflächen unserer körperlichen, privaten und beruflichen Existenz, verbunden mit der Leistungsfähigkeit der künstlichen Intelligenz (KI), erzeugt den industriellen Horizont unserer Zeit ? und jenen des dritten Jahrzehnts im 21. Jahrhundert. Die Phänomene der Wirklichkeit werden erfasst und sofort quantifiziert, wodurch ein Raum von praktisch unendlicher Funktionsvielfalt entsteht.

Derzeit ist die KI mit dreifacher Kompetenz versehen. Zum einen vermag sie Situationen aller Art zu interpretieren. Zu Beginn der 1990er Jahre entstanden sogenannte Expertensysteme, die aus Datenmaterial automatisch Diagnosen des Zustands bestimmter Systeme herleiten konnten. Zum Beispiel von Düsentriebwerken.

Das folgende Jahrzehnt erlebte einen Sprung, der mit dem Begriff Data-Mining beschrieben wird: Programme lernten, in hoher Geschwindigkeit Datenkorrelationen zu erfassen und damit Trends bloßzulegen, die sich der menschlichen Wahrnehmung bis dahin entzogen hatten. So kann beispielsweise die Bonität eines Kreditsuchenden anhand zahlreicher Kriterien für mehrere Jahre im Voraus berechnet werden.

Kurz erklärt – Was ist künstliche Intelligenz? Humanoide Roboter, eine Matrix, die Menschen als Energiespender benutzt ? so stellen wir Menschen künstliche Intelligenz in Filmen dar. Doch wie sieht die Wirklichkeit aus? © Foto: Zeit Online

Ferner ist die KI imstande, Empfehlungen zu formulieren. So kann sie einem Unternehmen etwa vorschlagen, aufgrund einer Reihe von Parametern einem bestimmten Subunternehmen den Vorzug zu geben. Eine weitere Anwendung bietet das Smartphone. Seine geografische Ortung erlaubt es, dem Nutzer auf sein Profil zugeschnittene Angebote in der näheren Umgebung anzuzeigen. Schließlich ist die KI zur autonomen Entscheidungsfindung befähigt, sie kann sogar ohne menschliche Kontrolle handeln , wenn etwa automatische Tradingsysteme im Hochfrequenzhandel Wertpapiere eigenständig kaufen oder verkaufen.

All diese Systeme beherrschen das Selbstlernen, das machine learning, und perfektionieren sich deshalb ununterbrochen. Bei dieser noch recht neuen Fähigkeit wird das Verhalten eines Systems nicht vorab durch sein Programm festgelegt, vielmehr ist es die Basis, von der aus das Kompetenzniveau entsprechend den Erfahrungen des Systems regelmäßig gesteigert wird.

Dieser Artikel stammt aus der ZEIT Nr. 24/2017. Hier können Sie die gesamte Ausgabe lesen.

Es sind in erster Linie die mächtigen, mit Geld, Arbeitskraft und Infrastruktur ausgestatteten Unternehmen im Silicon Valley, die an der vordersten Front der Forschung und Entwicklung von KI stehen. Zum Beispiel Alphabet, dessen Labore mit Google Brain, DeepMind und einer Reihe weiterer Projekte an der automatisierten Interpretation von Sprache arbeiten. Oder IBM, dessen System Watson Strukturen automatisierten Wissens entwirft. Oder auch Facebook und Microsoft, die an Bilderkennungssoftware arbeiten oder Chatbot-Programmen, die mit den Nutzern kommunizieren können. Sie alle wollen den Markt der rasant wachsenden „kognitiven Informatik“ beherrschen, die an die Stelle der programmierenden und ihrer Vorläuferin, der rechnenden Informatik, tritt. Sie läutet die nun heraufkommende Ära der symbolischen Überlegenheit der algorithmischen Evaluation und Entscheidung in den Angelegenheiten der Menschen ein.

Von besonderer Symbolkraft ist Google-Car: Die Sensoren im Auto erfassen Unmengen an Daten, hauptsächlich solche, die sich auf die unmittelbare Umgebung und auf andere Fahrzeuge beziehen. Außerdem haben sie Zugriff auf Informationen wie zum Beispiel Straßenkarten und zapfen Daten aus einer Vielzahl von Servern ab, beispielsweise Meldungen von Verkehrsstörungen. Ununterbrochen und in Echtzeit werden aus den unterschiedlichen Daten immer neue Handlungsoptionen abgeleitet. Dieses System entspricht ganz der jüngsten Mission der künstlichen Intelligenz: Sie soll unsere Unzulänglichkeiten ausgleichen und uns gefahrlos durch die beste aller Welten lotsen.

Der menschliche Faktor wird neutralisiert. Denn das Fahrzeug analysiert mithilfe von KI den Gesichtsausdruck seiner Insassen, interpretiert ihren körperlichen oder seelischen Zustand oder auch die Gespräche der Passagiere, um dann eine Vielzahl von Aktivitäten anzuregen, nicht viel anders als ein Animateur im Ferienclub. Wird beispielsweise Müdigkeit konstatiert, schlägt das System einen Halt an der nächsten Apotheke vor oder eine Pause in einem zum Profil der Passagiere passenden Hotel oder Restaurant. Vielleicht regt es auch ein Treffen mit Bekannten an, die sich gerade in der Nähe aufhalten. Die optimale Kongruenz der Dinge durch allwissende Systeme erzeugt genau die vollkommene Welt, die bisher außerhalb der menschlichen Vorstellungskraft lag.

Gleichzeitig bewegt sich die KI Schritt für Schritt darauf zu, die menschliche Entscheidungsfindung zu führen. Die für den Einsatz im Gesundheitswesen entworfene Watson-Variante von IBM analysiert die Krankenakten der Patienten. Sie stellt Diagnosen, schreibt Rezepte, führt die Nebenwirkungen auf und kontrolliert sie für jeden einzelnen Fall. Sie liest die online verfügbaren wissenschaftlichen Artikel und erweitert unaufhörlich ihr Fachwissen, indem sie geeignete Informationen sammelt und auswertet. Bereits jetzt geben manche Krankenversicherungen dieser scheinbar objektiven und kalten Bewertung gegenüber der ärztlichen Kompetenz den Vorzug.

Éric Sadin

ist Schriftsteller und Philosoph. Sein jüngstes Buch heißt La Silicolonisation du monde ? L?irrésistible expansion du libéralisme numérique (L?échappée, Oktober 2016). Sadin veröffentlicht regelmäßig Kommentare in französischen Tageszeitungen.

BakerHostetler, eine der wichtigsten amerikanischen Kanzleien, setzt Ross ein, ein Programm, das Berge von Dokumenten durchforstet und jeden Fall in einen größeren Kontext stellt. Ross ist immer auf dem neuesten Stand und zitiert jede als sachdienlich geltende Entscheidung, wenn sie für das laufende Verfahren relevant werden könnte. Das Prinzip erinnert an den Klon Mimi, weibliche Figur der schwedischen Serie Real Humans, die in einer Folge in einer Anwaltskanzlei arbeitet. Ihre Vorgesetzten reagieren panisch, als wichtige Mandanten unangekündigt erscheinen, um folgenschwere Entscheidungen zu überprüfen. Sofort verbindet Mimi ihre zerebralen Prozessoren mit Datenbanken und stellt dank ihrer hohen Verarbeitungsgeschwindigkeit vor den Augen ihrer verblüfften Kollegen in Lichtgeschwindigkeit ein makelloses Dossier der betreffenden Rechtsfälle zusammen.

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