In «Die Rückeroberung» schlägt die Natur in Zürich zurück: Franz Hohler sah den Stadtwolf kommen

Gepostet am Jun 21, 2014

Es liest sich wie eine Prophezeiung: «Eines Tages, als ich an meinem Schreibtisch sass und zum Fenster hinausschaute, sah ich, dass sich auf der Fernsehantenne des gegenüberliegenden Hauses ein Adler niedergelassen hatte.»  Harmlos beginnt die Invasion der Natur in die Stadt Zürich, wie sie der Schweizer Schriftsteller Franz Hohler 1982 in der Erzählung «Die Rückeroberung» beschreibt.

Bald fallen Hirsche, ein Rudel Wölfe und schliesslich der Bär über die Stadt herein. Todesangst bricht aus, nachdem ein Wolf einen Bub reisst. Ein Krisenstab wird einberufen, die wilden Tiere werden allesamt zum Abschuss freigegeben. Vergeblich: Die Menschen müssen plötzlich mit den Tieren zurechtkommen. Der Einbruch der Natur zerreisst die dünne Schutzhülle des wohlgeordneten Alltags, der Mensch ist wehrlos, kommt damit nicht klar.

Auch der Tod des ersten Wolfes von Zürich durch eine ­S-Bahn wurde beinahe nicht bemerkt. Man hielt ihn erst für einen Hund. Ausgerechnet die durchgetaktete Zürcher S-Bahn hat ihn erwischt, ausgerechnet in der Agglomeration passierte es. Eine skurrile, geradezu würdelose Art, um als wildes Tier zu Tode zu kommen. Eine Szene wie aus Hohlers «Rückeroberung». Die Städter sind verwirrt: Ein Wolf, der passt doch zu Schlieren wie ein McDonald?s zum Maiensäss: gar nicht.

«Wir blenden die Natur zu stark aus», sagt Franz Hohler zu BLICK, «und leben in einer künstlichen Welt.» Es gebe kaum noch Berührungen mit der Natur. «Sie ist keine Wirklichkeit mehr in unserem Taktfahrplan ? es sei denn, ein Wolf läuft vor die S-Bahn.»

Die Natur reglementieren wir, zwängen sie in Konzepte: Es gibt ein Bärenkonzept, ein Wolfskonzept, ein Biberkonzept, ein Luchskonzept. «Und dann sind wir ganz erstaunt, wenn sich die Tiere nicht daran halten.» Scheuen sie Menschen nicht, werden etwa Bären erst zu Problembären und bald zu toten Bären. «Aber nicht sie sind die Räuber, wir sind es», sagt Hohler.

Vielleicht laufe irgendwann mal ein Rudel Hirsche durch die Durchmesserlinie, sagt Hohler. «Ich fände das sehr wohltuend.» Es wäre eine Erinnerung an eine Welt, in der der Mensch Teil der Natur ist ? «und nicht ihr gnadenloser Herrscher».

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